• Fr. Nov 22nd, 2024

Putin lobt Russlands Wirtschaft – doch die Probleme wachsen

Kremlchef Wladimir Putin leitet eine Sitzung zur Entwicklung der russischen Industrie unter dem Druck der Sanktionen. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Ramil Sitdikov/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa)

Seit knapp 16 Monaten führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine, seit knapp 16 Monaten wird das Riesenreich dafür mit weitreichenden westlichen Sanktionen bestraft. In der Ostsee-Metropole St. Petersburg scheint all das in diesen Tagen ganz weit weg zu sein. Beim 26. Internationalen Wirtschaftsforum will Russlands Präsident Wladimir Putin zur Schau stellen, dass sein Land angeblich nicht auf Partner aus den USA und Europa angewiesen ist.

Auf Telegram verkünden die Organisatoren stolz, dass insgesamt 17.000 Menschen aus 130 Ländern ihre Teilnahme an dem Forum zugesagt hätten, das seit vergangenem Mittwoch läuft. Nicht erwähnt wird hingegen, dass vielen westlichen Journalisten in diesem Jahr die Akkreditierung verwehrt wurde. Stattdessen werden Fotos gezeigt von Podiumsdiskussionen, ausländischen Delegationen und einem Roboter, der Speise-Eis herstellt.

Aussagekraft laut Kritikern fragwürdig

Seit Kriegsbeginn wird Putin nicht müde zu betonen, dass Russland den westlichen Strafmaßnahmen nicht nur trotze, sondern angeblich sogar gestärkt und unabhängiger daraus hervorgehe. Gerne zieht Moskau zur Bekräftigung dieses Arguments auch Statistiken zu Hilfe, deren Aussagekraft Kritiker als zumindest fragwürdig einstufen.

So ist es beispielsweise zwar durchaus richtig, dass die Arbeitslosigkeit in Russland mit 3,3 Prozent zuletzt ein historisches Tief erreichte. Doch ein wesentlicher Grund dafür ist die Massenflucht vor allem junger Russen vor Putins Mobilmachung seit dem vergangenen Herbst. Ein weiterer, dass Hunderttausende tatsächlich an der Front sind. Seitdem gibt es vielerorts nicht nur wenige Arbeitslose – sondern auch zu wenige Fachkräfte.

Im Großen und Ganzen hat sich die russische Wirtschaft zwar tatsächlich erstaunlich gut und schnell an die Sanktionen angepasst. Russische Geschäftsleute seien zäh und überlebensfähig, urteilt die renommierte Moskauer Wirtschaftswissenschaftlerin Natalja Subarewitsch. Zumindest im Alltag sind Engpässe bei der Versorgung jedenfalls nicht zu spüren. In Moskauer Geschäften mangelt es derzeit weder an Lebensmitteln noch an hipper Sommerkleidung.

Computer aus Kirgistan und Armenien

Dabei geholfen haben auch die Neuregelungen der russischen Regierung zum «parallelen Import». Demnach können Waren ohne die Erlaubnis des Markenbesitzers nach Russland eingeführt werden – oft über Drittländer. Diese eröffneten dem Business neue Nischen. Und so kommen die Computer nun eben nicht mehr aus Europa, sondern aus dem zentralasiatischen Kirgistan oder Armenien im Südkaukasus, Autos und Maschinen aus der Türkei und Kasachstan – und natürlich ganz viele Waren aus China.

Problematisch aus russischer Sicht ist dabei allerdings die enorm gewachsene Abhängigkeit von China. Ein Viertel des russischen Außenhandels läuft inzwischen über den Nachbarn im Südosten. Beim Export – hier vor allem Rohstoffe – sind es etwa 20 Prozent, beim Import sogar mehr als 30 Prozent. Das macht Russland anfällig.

Rüstungsindustrie brummt

Auch ein Blick auf die verschiedenen russischen Branchen ergibt ein ambivalentes Bild. Auf der einen Seite gibt es regelrechte Kriegsgewinner: In Regionen mit starker Rüstungsindustrie – beispielsweise dem Ural – brummt der ökonomische Motor. Doch bei weitem nicht alle Sektoren konnten sich nach dem Abzug westlicher Partner erfolgreich umstellen. Allen voran die Autoindustrie steckt weiter tief in der Krise. Versuche, das zu kaschieren, gehen nach hinten los: Der im vergangenen Winter von Staatsmedien gefeierte Neustart der sowjetischen Marke Moskwitsch etwa entpuppte sich letztendlich als Kopie des chinesischen Kleinwagens JAC JS4.

Enorme Probleme gibt es nach dem Exodus westlicher Firmen auch mit der Produktion von Haushaltsgeräten und Werkzeugen. Der Einzelhandel hat zwar neue Lieferketten aufgebaut, aber der Konsum ist weiterhin schwach. Vielen Menschen fehlt nach dem letztjährigen Inflationsschub schlicht das Geld, um sich neben Lebensmitteln noch etwas zu leisten.

Einnahmen aus Öl und Gas merklich zurückgegangen

Und nicht zuletzt schweben viele Fragezeichen über dem russischen Staatshaushalt. Das Minus in der Kasse ist deutlich höher als ursprünglich veranschlagt. Die Einnahmen aus Öl und Gas, die im vergangenen Jahr noch sprudelten, sind angesichts von EU-Embargo und -Preisdeckel merklich zurückgegangen. Für Aufregung unter russischen Unternehmern sorgt der Plan der Regierung, das Haushaltsloch zumindest teilsweise durch eine Firmen-Sondersteuer zu stopfen. Ende Juni will die Staatsduma über diese «Kriegsabgabe» abstimmen, die insgesamt 300 Milliarden Rubel (3,3 Milliarden Euro) einbringen soll.

Für das laufende Jahr wird das Geld wohl noch reichen, um die einzelnen Regionen zu finanzieren – inklusive der neu annektierten und stark zerstörten ukrainischen Gebiete Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk, die ein Viertel der regionalen Subventionen verschlingen. Insbesondere mit Blick auf die Präsidentenwahl, die im kommenden Jahr ansteht, ist es wichtig, etwa Lehrern und Beamten zuverlässig ihr Gehalt zu zahlen und sie bei Laune zu halten.

Laut Expertin Subarewitsch droht vielen nationalen Projekten, mit denen beispielsweise Bildungsangebote und Bauvorhaben finanziert werden, aber längerfristig das Aus. Gerade sie aber dienten der Entwicklung von Infrastruktur und Wirtschaft. Russlands Rückstand auf westliche Industriestaaten dürfte damit in den nächsten Jahren deutlich anwachsen.

Von André Ballin und Hannah Wagner, dpa