Der Fachkräftemangel in Deutschland wird sich in den kommenden Jahren in vielen Bereichen weiter verschärfen – vor allem im Verkauf, in Kitas, der Sozialarbeit und Krankenhäusern. Das geht aus einer Studie des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) hervor. Um die drohende Personallücke zu schließen, müssen demnach vor allem mehr Menschen in Arbeit gebracht werden – und später in den Ruhestand gehen. «Wenn wir es schaffen, die Babyboomer nur etwas länger arbeiten zu lassen, wäre uns bereits enorm geholfen», sagte Studienautor Alexander Burstedde.
Das IW schlüsselt in der Studie anhand bekannter Daten auf, wie sich der Mangel an Arbeitskräften in einzelnen Berufsgattungen bis 2026 entwickelt. Die größte Lücke dürfte demnach in der Kinderbetreuung, der Kranken- und Altenpflege sowie der Sozialarbeit klaffen. Noch vor ihnen liegt der Verkauf, dem es etwa an Kassierinnen und Kassierern fehlt. Der Bereich unterliegt allerdings großen Schwankungen.
Ein wesentlicher Grund für den Fachkräftemangel sei, dass die Babyboomer, also die besonders geburtenstarken Jahrgänge, Schritt für Schritt in Rente gingen. Zugewanderte Arbeitskräfte allein könnten diese Lücke nicht schließen, zumindest nicht beim aktuellen Tempo der Zuwanderung.
Deshalb sei es wichtig, die Menschen länger in Arbeit zu halten, sagte Burstedde. «Heute gehen Beschäftigte im Schnitt mit gut 64 Jahren in den Ruhestand», sagte er. «Wenn wir da nur etwas mehr rausholen, haben wir schon viel geschafft.» Denn Ältere in Arbeit zu lassen, sei der mit Abstand wichtigste Hebel gegen den Fachkräftemangel, sagte Burstedde. «Grob gesagt etwa dreimal so wichtig wie die Zuwanderung.» Dabei sei es nötig, Älteren die passenden Angebote zu machen – etwa das Arbeiten in Teilzeit.
Burnout in Pflege und medizinischen Berufen verhindern
Dem stimmt auch Sebastian Dullien zu, Ökonom am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Ältere könnten im Kampf gegen den Fachkräftemangel eine wichtige Rolle spielen, sagte er. «Allerdings muss man ihnen die Flexibilität am Arbeitsplatz geben, die sie brauchen.»
Um die großen Personallücken etwa in Krankenhäusern zu füllen, brauche es eine neue Organisation der Arbeit. «In der Pflege und den medizinischen Berufen gehen uns die Leute aus, weil sie nicht mehr können», sagte der Ökonom. Dass Beschäftigte hier ausbrennen, dürfe nicht passieren. Um die Berufe wieder attraktiv zu machen, brauche es zudem eine bessere Bezahlung.
Auch beim Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe sieht man die Mehrarbeit kritisch. «Wir sehen schon jetzt in den Pflegeberufen, dass Ausfälle durch Krankheit und ein früheres Ausscheiden aus dem Beruf deutlich höher sind als in anderen Berufen», sagte deren Bundesgeschäftsführerin Bernadette Klapper. Bei diesen Bedingungen die Arbeitszeit noch zu erhöhen, verschärfe das Problem. Stattdessen brauche es Strukturen in der Pflege, die das Arbeiten bis zur Rente überhaupt ermöglichen.
Fachkräftemangel ging im vierten Quartal 2022 leicht zurück
An qualifiziertem Personal mangelt es offenbar nicht: Wie aus einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Sommer hervorging, könnten rechnerisch mindestens 300.000 Vollzeitstellen in der Pflege durch Rückkehrer und Aufstocker besetzt werden, vorausgesetzt, die Arbeitsbedingungen entwickelten sich zum Besseren.
Bereits jetzt ist die Personaldecke im Bereich «Gesundheit, Soziales, Lehre und Erziehung» ein Brennpunkt. Im Dezember blieben hier mehr als die Hälfte der ausgeschrieben Stellen ohne passende Besetzung, wie das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (Kofa) des IW in einer anderen Studie berichtete. Immerhin ergab sie auch, dass der Fachkräftemangel im vierten Quartal 2022 leicht zurückging. Allerdings betonten die Experten, dass er weiter auf hohem Niveau verharre.
Auf eine große Personalnot steuern auch Betriebe aus dem Bauwesen und dem Handwerk hin – allen voran aus der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik. Sie müssen in den kommenden Jahren etwa den energetischen Umbau vieler Eigenheime stemmen. Die Ausbildungszahlen seien hier zwar etwas besser als im allgemeinen Trend, sagte Carsten Müller-Oehring vom Zentralverband Sanitär Heizung Klima. «Das reicht jedoch in keiner Weise, um den großen Bedarf an Fachkräften zu decken, der erforderlich ist, um die politisch ausgerufenen Aufgaben zu erfüllen», sagte Müller-Oehring.
Wie in der Studie beschrieben sei es wichtig, die Beschäftigten lange im Arbeitsleben zu halten. Allerdings dürfe nicht vergessen werden, dass Handwerk zum Teil schwere körperliche Arbeit bedeute.
Für die Studie nahm das IW ausschließlich sozialversicherungspflichtig Beschäftigte ins Auge. Aussagen über die zukünftige Entwicklung stützen sich auf die Daten der Jahre 2015 bis 2021 – die Zuwanderung infolge des Ukraine-Kriegs ist somit nicht berücksichtigt.
Im Jahr 2021 litten unter den 1300 untersuchten Berufsgruppen gut 400 an Personalnot. Bis 2026 werde das auf knapp 560 steigen. «Der Fachkräftemangel breitet sich also auf weitere Berufe aus», heißt es in der Studie.
Einen vergleichsweise schwachen Hebel gegen den Fachkräftemangel sieht Studienautor Burstedde hingegen in Maßnahmen, die Arbeitslosigkeit verringern sollen. «Sie liegt sehr niedrig und scheint selbst in Krisen nicht mehr anzusteigen», sagte er. «Die Unternehmen halten ihre Leute – auch wenn es hart auf hart kommt.»