Die schwierige Lage bei der Deutschen Bahn mit Problemen bei der Pünktlichkeit und maroder Infrastruktur beeinflusst nach Ansicht eines Experten auch die Tarifverhandlungen mit der Gewerkschaft EVG. «Die Atmosphäre im Konzern ist sehr schlecht aufgrund der vielen Unzulänglichkeiten und Krisen. Es klappt ja gefühlt keine Fahrt mehr», sagte der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder der Deutschen Presse-Agentur. «Das ist eine Lage, die man atmosphärisch nicht unterschätzen sollte beim Tarifkonflikt. Und sie wird auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen.»
Dass die Gewerkschaft mehr als die zuletzt diskutierten 400 Euro mehr pro Monat bei 27 Monaten Laufzeit plus 2850 Euro Inflationsausgleichprämie erreichen will, findet Schroeder verständlich. «Es sieht auf den ersten Blick alles sehr hoch aus, aber man muss auch sehen, dass die Inflation sehr hoch ist», sagte der Politikwissenschaftler. Zudem müsse die EVG eine «Trophäe» mit nach Hause bringen, also ein Ergebnis «mit deutlicher Handschrift».
Tagelange Streiks möglich
Die EVG hatte am Mittwochabend die Tarifverhandlungen für gut 180.000 Beschäftigte bei der Deutschen Bahn für gescheitert erklärt. Der Bundesvorstand der Gewerkschaft beschloss daraufhin, eine Urabstimmung über unbefristete Streiks zu starten. Diese wird voraussichtlich vier bis fünf Wochen dauern. Sollten sich 75 Prozent der Abstimmungsteilnehmer für den Arbeitskampf aussprechen, drohen etwa ab August tagelange Streiks.
«Ein gutes Ergebnis bei der Urabstimmung könnte auch ein Argument sein, dass die Arbeitgeber beim Angebot noch mal was drauflegen und es zu weiteren Verhandlungen kommt», sagte Experte Schroeder. «Schließlich bietet schon der Vergleich mit dem öffentlichen Dienst noch etwas Luft für die Bahnführung.»
Schroeder hatte schon vor der jüngsten Verhandlungsrunde vermutet, dass es noch mal zum Arbeitskampf bei der Bahn kommen könnte. «Würde die EVG das nicht machen, wäre ihr bisheriges Vorgehen vermutlich umsonst. Schließlich sehen sie sich einer erheblichen Erwartungshaltung gegenüber und wollen aus dem Schatten der GDL raus.»
«Mit Weselsky ein erfahrener Haudegen an der Spitze»
Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) mit ihrem Chef Claus Weselsky hat sich in den vergangenen Jahren durch ihr hartes Auftreten bei Tarifkonflikten einen Namen gemacht. Sie wird im Herbst mit der DB in Verhandlungen treten, bei dem bundeseigenen Konzern werden etwa 8000 Beschäftigte nach den GDL-Tarifverträgen bezahlt. Die Gewerkschaft fordert unter anderem 555 Euro mehr pro Monat bei 12 Monaten Laufzeit, drei Stunden weniger Wochenarbeitszeit für Beschäftigte im Schichtdienst und 3000 Euro Inflationsausgleichsprämie.
«Während die GDL mit Weselsky einen erfahrenen Haudegen an der Spitze hat, der in seiner Organisation eine unumstrittene Führungsinstanz ist, weiß man das bei der neuen EVG-Führung noch nicht», sagte Experte Schroeder. Die beiden Verhandlungsführer Cosima Ingenschay und Kristian Loroch seien zuvor nicht in herausgehobener Position in Erscheinung getreten und EVG-Chef Martin Burkert sei noch nicht lange im Amt. «Das ist alles also noch nicht so eingespielt und damit auch ein Experiment mit offenem Ausgang.»