Die Entwicklung am Arbeitsmarkt ist normalerweise träge – sie folgt konjunkturellen Entwicklungen meist mit Verzögerung und orientiert sich stark an saisonalen Einflüssen. Im Juni – das ist fast ein Gesetz – sinkt die Zahl der Arbeitslosen, weil die Wirtschaft vor der Sommerpause noch einmal Gas gibt.
Diesmal ist es anders: Die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland stieg im Juni im Vergleich zum Mai um 11.000 auf 2,555 Millionen. Das sind 192.000 Arbeitslose mehr als noch vor einem Jahr. Die Quote blieb unverändert bei 5,5 Prozent. «Der Arbeitsmarkt behauptet sich in einem schwierigen Umfeld gegen den Druck, unter dem die deutsche Wirtschaft von vielen Seiten steht», sagte die Staatssekretärin im Bundesarbeitsministerium, Leonie Gebers.
Ein Anstieg im Juni ist sehr ungewöhnlich
Die Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, schätzt die Lage etwas skeptischer ein. «Zum Ausklang der Frühjahrsbelebung, die schon schwach war, prägt Vorsicht und Zurückhaltung das Bild am deutschen Arbeitsmarkt», sagte Nahles am Freitag in Nürnberg. «Ein Anstieg der Arbeitslosigkeit im Juni kommt wirklich nur in Ausnahmefällen vor», betonte sie. Und auch für die nähere Zukunft macht die Arbeitsmarktexpertin wenig Hoffnung. «Wir rechnen mit einem Anstieg in den nächsten Monaten», sagte sie. In welchem Umfang das passiere, werde man sehen müssen. Nahles legte jedoch Wert auf die Feststellung, es handele sich nicht um eine «krasse», jedoch um eine «merkliche» Veränderung.
Nahles machte vor allem die Konjunkturflaute für die Situation verantwortlich. «Die schwierigeren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen spüren wir nun auch auf dem Arbeitsmarkt: Die Arbeitslosigkeit steigt, und das Beschäftigungswachstum verliert an Schwung.» Die Bundesagentur griff für die Juni-Statistik auf Datenmaterial zurück, das bis zum 13. Juni zur Verfügung stand. Als beunruhigend wird vor allem empfunden: Jeder dritte Arbeitslose gilt als langzeitarbeitslos, insgesamt 908.000 und damit 30.000 mehr als im Mai.
Andrea Nahles hofft auf Unterstützung aus Berlin
Um diesen Personenkreis zurück in den Arbeitsmarkt zu bekommen, wurde maßgeblich das neue Bürgergeld eingeführt, dessen zweite Stufe am Samstag inkraft tritt. Ob der neue «Instrumentenkasten», wie Nahles es nennt, aber auch wirksam greifen kann, ist noch nicht völlig sicher. Es hängt am Geld, das im Bundeshaushalt für den sogenannten Eingliederungstitel zur Verfügung steht. Nahles hofft auf den Bundestag – dort will sie in den nächsten Tagen noch einmal Überzeugungsarbeit leisten und weitere Millionen locker machen.
Monatelang war es der Zufluss von Ukraine-Flüchtlingen, der die Arbeitsmarktstatistik negativ beeinflusste. Inzwischen ist es anders: Auch ohne die Berücksichtigung ukrainischer Flüchtlinge wäre die Arbeitslosigkeit im Juni gestiegen, sagte Nahles. Inzwischen sind 87.000 Ukrainerinnen in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt, weitere 27.000 haben einen Minijob. Insgesamt hat die Bundesagentur 691.000 Ukrainerinnen und Ukrainer in der Statistik, davon 229.000 Kinder und 479.000 Erwerbstätige.
In Deutschland herrscht weiterhin Personalmangel
Die Kurzarbeit bewegt sich weiter auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau. Im April wurde für 135.000 Personen konjunkturelles Kurzarbeitergeld gezahlt. Im März waren es noch 160.000 und im Februar 151.000. Aktuellere Daten liegen für die tatsächliche Inanspruchnahme von Kurzarbeit nicht vor. Vom 1. bis 26. Juni wurde für 45.000 Menschen Kurzarbeit angezeigt – jedoch ist unklar, für wie viele diese auch zum Tragen kommt.
Ungeachtet der konjunkturellen Probleme herrscht in Deutschland Personalmangel. «Der Fachkräftemangel bleibt im historischen Vergleich weiter auf sehr hohem Niveau», sagte die Chefvolkswirtin der staatlichen Förderbank KfW, Fritzi Köhler-Geib. Abhilfe gibt es derzeit fast ausschließlich durch Zuzug aus dem Ausland.
Die Zahl der offenen Stellen lag im Juni mit rund 769.000 zwar um mehr als 100.000 niedriger als vor einem Jahr. Nahles betonte aber: «Das Risiko, arbeitslos zu werden, ist weiterhin sehr niedrig.» Noch immer sei eine vergleichsweise hohe Zahl von Arbeitsstellen unbesetzt. Die Arbeitgeber hätten auch ihre Taktik bisher nicht geändert, es gebe auch weiterhin Halteeffekte. Allerdings sei es für Arbeitslose auch deutlich schwieriger geworden, einen neuen Job zu finden.