• Sa. Nov 23rd, 2024

Gestohlene Milliarden: Justiz arbeitet Cum-Ex-Skandal auf

Hanno Berger (r), Architekt der Cum-Ex-Aktiengeschäfte, kommt zur Urteilsverkündung in den Bonner Gerichtssaal. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Oliver Berg/dpa)

Immer mehr Geldhäuser werden Ziel von Razzien wegen Cum-Ex-Deals, erste Banker haben Haftstrafen erhalten: Die Ermittlungen im milliardenschweren Steuerskandal laufen intensiv. Vor der Justiz liegt viel Arbeit. Mit mehr als 1500 Beschuldigten, über 100 Verfahren und rund 130 verstrickten Banken ist der Komplex riesig. Bisher gab es erst gut eine Handvoll Urteile. Ein Überblick über den Cum-Ex-Skandal und was im neuen Jahr ansteht.

Der Trick

Bei Cum-Ex-Deals, die ihre Hochphase von 2006 bis 2011 hatten, nutzten Banken und andere Beteiligte ein Schlupfloch. Um den Dividendenstichtag schoben sie Aktien mit («cum») und ohne («ex») Ausschüttungsanspruch in Paketen hin und her. Am Ende wusste der Fiskus nicht, wem die Papiere gehörten. Bescheinigungen über Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag wurden mehrfach ausgestellt – Finanzämter erstatteten Steuern, die gar nicht gezahlt worden waren. «Kaum eine größere Bank in Deutschland ist nicht in den Cum-Ex-Skandal verstrickt», sagt Gerhard Schick, Vorstand bei der Bürgerbewegung Finanzwende.

Erst 2012 wurde diese illegale Praxis durch eine geänderte Abwicklung der Steuerzahlung über die Depotbank unterbunden. 2021 stellte der Bundesgerichtshof klar, dass Cum-Ex-Geschäfte als Steuerhinterziehung zu werten sind. Viel zu lange habe der Staat die Geschäfte toleriert, meinen Kritiker. «Wir sind im Jahr elf nach Unterbindung solcher Geschäfte, und trotz über 1500 Beschuldigter lassen sich die Angeklagten an wenigen Händen abzählen», sagt Schick.

Etliche Milliarden Euro Steuerschaden

Dem deutschen Fiskus entgingen nach Schätzungen mindestens 10 Milliarden Euro. Nimmt man verwandte Finanzmarktgeschäfte wie Cum-Cum und ähnliche Deals dazu, ergibt sich laut dem Mannheimer Betriebswirtschaftsprofessor Christoph Spengel ein Schaden von rund 36 Milliarden Euro.

Nur einen Teil hat der Staat zurückgeholt: Man habe Kapitalertragsteuer inklusive Solidaritätszuschlag in Höhe von 3,1 Milliarden Euro zurückgefordert beziehungsweise entsprechende Erstattungsanträge abgelehnt, zeigt ein Schreiben des Bundesfinanzministeriums von Oktober. «Gemessen am Steuerschaden sind die Erfolge klein», sagt Spengel.

Razzien – eine Bank nach der anderen im Visier

Kriminalbeamte und Steuerfahnder durchsuchen immer wieder Banken. Die Staatsanwaltschaft Köln hat unlängst Razzien unter anderem bei den US-Banken Merrill Lynch, J.P. Morgan und Morgan Stanley, der britischen Barclays, der schwedischen SEB sowie der Dekabank in Frankfurt unternommen.

Auch die Deutsche Bank geriet ins Visier. Die Durchsuchungen zeigten, dass die Justiz die Ermittlungen unabhängig von Nationalität vorantreibe, sagt Schick. Er erwartet, dass sich die Aufarbeitung des Skandals 2023 beschleunigt. «Der BGH hat die Urteile der ersten Instanz bestätigt, das stärkt die Staatsanwälte.»

Viele Beschuldigte, wenige Urteile

Deutsche Gerichte haben erst einige wenige Urteile verhängt, darunter gegen zwei britische Aktienhändler sowie gegen frühere Beschäftigte der Hypovereinsbank und der Privatbank M.M. Warburg. Ex-Manager der insolventen Maple Bank, darunter der Deutschland-Chef, erhielten zudem hohe Haftstrafen und mussten insgesamt mehr als zehn Millionen Euro aus ihren Vermögen zurückzahlen. «Die bisherigen Urteile sind nur die Spitze des Eisberges», sagt Spengel. Zwar sei die strafrechtliche Aufarbeitung auf einem guten Weg. «Doch die ganz großen Namen wie die Deutsche Bank sind noch nicht dabei.»

Dass es nur wenige Urteile gibt, liegt an der komplexen Materie, der späten Aufarbeitung und knappen Ressourcen. «Die Personalkapazitäten bei den Ermittlern sind immer noch zu klein», sagt Spengel. Beim Personal in der Kölner Staatsanwaltschaft habe sich die Lage verbessert, meint Schick. Er verweist auf ein neues Prozessgebäude in Siegburg, das errichtet wird, um die Vielzahl an erwarteten Cum-Ex-Strafverfahren am Landgericht Bonn bewältigen zu können.

Hanno Berger – Schlüsselfigur und Architekt der Deals

Der einstige Finanzbeamte in Hessen gilt als wichtigster Kopf im Skandal. Als Steueranwalt hatte er die Aktiendeals bei Banken und Vermögenden als rechtlich sichere Steueroptimierung angepriesen, bei der Konstruktion der Geschäfte beraten und dabei Millionen verdient.

Als die Justiz 2012 Bergers Kanzlei in Frankfurt durchsuchen ließ, setzte er sich in die Schweiz ab. Bis zuletzt wehrte sich Berger gegen seine Auslieferung nach Deutschland – erfolglos: Im Februar 2022 wurde Berger von der Schweizer Polizei überstellt. Im Dezember verurteilte das Landgericht Bonn Berger zu acht Jahren Haft.

Was wusste Olaf Scholz?

Der Cum-Ex-Skandal hat die Politik erreicht – bis in höchste Kreise. Es geht um den Vorwurf der Einflussnahme führender SPD-Politiker auf die steuerliche Behandlung der Hamburger Warburg Bank. Hintergrund sind Treffen des damaligen Hamburger Bürgermeisters Olaf Scholz mit den Mitinhabern der Bank, Christian Olearius und Max Warburg.

2016 hatte die Hamburger Finanzverwaltung entgegen ursprünglicher Planung auf eine Rückforderung von 47 Millionen Euro verzichtet – und nach damaligen Kenntnisstand in die Verjährung laufen lassen, wie Zeugen ausgesagt hatten. Ein Jahr später wurden weitere 43 Millionen Euro zu unrecht erstatteter Kapitalertragssteuer erst auf Anweisung des Bundesfinanzministeriums zurückgefordert. «Die Politik hat bis 2016 möglicherweise Einfluss auf Finanzbehörden gehabt bei der steuerrechtlichen Behandlung von Cum-Ex», kritisiert Spengel.

Scholz hatte bei Vernehmungen im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft jegliche Einflussnahme im Fall Warburg bestritten. Beim Inhalt der Gespräche mit Olearius und Warburg berief sich Scholz auf Erinnerungslücken. Die Staatsanwaltschaft Köln verzichtet auf Ermittlungen gegen Scholz und den Hamburger Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD). Es liege kein Anfangsverdacht für das Vorliegen einer Straftat vor, hieß es. Die Union will Scholz im Bundestag erneut zu Cum-Ex befragen.

Cum-Cum-Geschäfte – der große Bruder von Cum-Ex

Bei Cum-Cum-Deals wurden von ausländischen Anlegern gehaltene Aktien kurz vor dem Dividendenstichtag an inländische Anteilseigner übertragen, etwa Banken. Diese konnten sich die Kapitalertragssteuer anrechnen bzw. erstatten lassen. Danach wurden die Aktien samt Dividende zurückgereicht und die gesparte Steuer geteilt.

Die Ermittlungen sind hier viel weniger fortschritten als im Cum-Ex-Skandal, dabei sei die Dimension weit größer, meint Schick. «Die Deals waren auch bei Sparkassen und Volksbanken verbreitet und reichten bis 2016.» Die Aufarbeitung von Cum-Cum müsse in diesem Jahr ein größeres Thema werden, fordert Schick. Er kritisiert: «Bisher fehlt der politische Wille, Gewinne aus Cum-Cum-Deals zurückzufordern.»

Bund und Länder hatten sich darauf verständigt, das Steuerschlupfloch rückwirkend zum 1. Januar 2016 zu schließen. Der Steuerschaden bleibt immens: Bei Cum-Cum hat die Bundesregierung im Oktober angegeben, Kapitalertragsteuer in Höhe von 278 Millionen Euro bestandskräftig zurückgefordert bzw. nicht auf die Steuerschuld angerechnet zu haben.

Kommende Cum-Ex-Prozesse – wer kommt vor Gericht?

Gegen Hanno Berger läuft am Landgericht Wiesbaden ein Prozess wegen anderer Cum-Ex-Deals. Schick erwartet, dass sich Warburg-Mitgesellschafter Olearius dieses Jahr am Landgericht Bonn verantworten muss. Die Staatsanwaltschaft Köln hat Anklage wegen Verdachts der schweren Steuerhinterziehung erhoben. Olearius bestreitet die Vorwürfe.

Vor dem Landgericht Frankfurt steht zudem ein Prozess an gegen zwei frühere Steueranwälte der Großkanzlei Freshfields, darunter der frühere weltweite Steuerchef. Die Anwälte sollen Cum-Ex-Geschäfte mit Gefälligkeitsgutachten unterstützt haben. Damit kämen erstmals Steueranwälte vor Gericht – eine ganz neue Dimension im Skandal. Andere verdächtigte Banker im Cum-Ex-Komplex haben sich ins Ausland abgesetzt. Für Schick ist klar: «Alle werden wir nicht kriegen.»

Von Alexander Sturm, dpa